Temporalia: HyperBourdieu

Pierre Bourdieu hat wie kaum ein zweiter die Rituale der Reproduktion des Homo academicus und die Mechanismen zur Mehrung seines kulturellen und symbolischen Kapitals offen gelegt. Die Intellektuellen gelten ihm weniger als revolution”re Avantgarde, sondern werden selbst der herrschenden Klasse zugeschlagen. Dass der franz–sische Star-Soziologe weiþ, wovon er schreibt, belegt nachdr¸cklich die Bibliografie seiner Arbeiten, die Ingo M–rth und Gerhard Fr–hlich zusammengestellt und jetzt im Internet zug”nglich gemacht haben. Ihre Dokumentation weist von 1958 bis 1999 etwa 1400 Ver–ffentlichungen aus, die Bourdieu als Autor, Ko-Autor, Herausgeber oder Ko-Herausgeber verzeichnen. Alle franz–sischen Erst- ausgaben ebenso wie s”mtliche Ðbersetzungen ins Deutsche und Englische, aber auch in andere Sprachen, sowie Zweit- und Wiederver–ffentlichungen seiner Arbeiten und Presseerkl”rungen soll die Biografie enthalten - wenn Online- Versionen verf¸gbar sind, bietet sie auch die entsprechenden links an. Die Bibliografie ist ¸bersichtlich gestaltet und pr”sentiert auch so entlegene Texte wie ein Gedicht zu Ehren von Gilles Delenze, eine Rede vor einem Unterausschuss des Europ”ischen Parlaments oder den Geburtstagsgruþ f¸r J¸rgen Habermas. Den unglaublichen Umfang der Publikationst”tigkeit von Bourdieu f¸hren die beiden Herausgeber auf zwei Strategien zur¸ck, auf die sie beim Suchen und Sammeln der Texte gestoþen sind. Zum einen finden sich viele "Bausteine" in Bourdieus Arbeiten, auf die er immer wieder zur¸ckgreift, um sie erneut zu verwenden, zu bearbeiten oder weiterzuentwickeln, so dass ein Text in bis zu sieben Versionen und unter ebenso vielen Titeln auftaucht. Zum anderen steht der Name Bourdieu inzwischen f¸r einen kollektiven Forschungsprozess und dessen Ergebnisse. W”hrend beispielsweise viele Arbeiten, die im Rahmen der Forschungsgruppe am Centre de Sociologie Europeene in den Sechzigern und Siebzigern entstanden, den sp”teren Professor am College de France lediglich als Mitautor verzeichneten, verlieren sich seine Ko-Autoren in den achtziger und neunziger Jahren nach und nach in die Fuþnoten - oder sie verschwinden v–llig. Auch hier kommen sie also zum Tragen, Die feinen Unterschiede.

THOMAS LEMKE

aus: Frankfurter Rundschau, Nr. 26, 1. Februar 2000